Die gesellschaftliche Spaltung überwinden (Video & Podcast)
Michael Andrick sprach über das „Virus der Moralisierung“
Der Berliner Philosoph und Kolumnist der Berliner Zeitung Michael Andrick thematisierte im Rahmen der Vorstellung seines neuen Buches „Im Moralgefängnis – Spaltung verstehen und überwinden“ am 9. Oktober 2024 das zunehmend vergiftete Diskursklima in unserem Land. Corona-Krise, Zuwanderung, Klimaschutz oder Ukrainekrieg polarisierten und spalteten die Gesellschaft zunehmend. Er verwies auf die einschlägigen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen von Allensbach und anderen Instituten, nach denen es mittlerweile eine Minderheit sei, die frei und unbeschwert über ihre politischen Ansichten sprechen könne. Die meisten täten das nicht mehr aufgrund einer vagen, vielleicht auch paranoischen Sanktionsangst, so Andrick. Die öffentliche Diskussion in einem moralisch verhetzten Raum bestehe nur noch daraus, daß jeder zu sagen versuche, was er sagen müsse, um in Sicherheit zu bleiben.
Seine Aufgabe als Philosoph sieht Andrick darin, für diese Situation einen „begrifflichen Ordnungsrahmen“ anzubieten, „wie diese leidvolle Diskurserfahrung, die wir in Deutschland heute machen, eigentlich zu verstehen ist, wie sie zustande kommt“. Im eigenständigen Denken sieht er die Möglichkeit zur Selbstbehauptung und sagt: „Nachdenken ist die Selbstbehauptung des Geistes gegen die Gewohnheit, die uns in ihrer Gewalt hat.“ Deshalb widmet er sich in seinem Buch der Frage, welche Denkgewohnheiten, welche Handlungsgewohnheiten, welche Auffassungsgewohnheiten uns in ihrer Gewalt hätten, so daß wir in einer Republik gelandet seien, in der nur noch eine immer kleiner werdende Minderheit der Bevölkerung sich in der Lage sehe, frei und unbeschwert über Politik zu diskutieren. Dabei kommt er zu dem Schluß, daß deplazierte und leichtfertige Moralisierung uns in diese Situation gebracht hätten.
Andrick sieht das „Wetterleuchten eines neuen Totalitarismus“ und erkennt in dem Zusammenhang eine „deutsche Immunschwäche“. Beide deutsche Staaten seien nach dem Krieg als „Nie-Wieder-Staat“ gegründet worden, genauer gesagt als „Nie-Wieder-Faschismus-Staaten“. Doch schienen Deutsche kulturell am wenigsten in der Lage zu sein, totalitäre Praktiken in der Politik als solche zu erkennen.
Ein Ausweg aus dem Moralgefängnis und eine Verständigung könne gelingen, wenn die Akteure öffentlicher wie privater Debatten einander wieder Respekt zollten und den Austausch auf der Sachebene suchten, ohne den Gesprächspartner oder einzelne Positionen von vornherein aus moralischen Gründen vom Diskurs auszuschließen: „Respekt ist nicht Sympathie, die wir mal spüren und mal eben nicht. Respekt ist von Zu- oder Abneigung unabhängig.“ Für Andrick gilt, daß jemanden zu respektieren vor allem bedeute, ihn zu berücksichtigen. Er sieht im Fehlen von gegenseitigem Respekt das Ende der Republik als der gemeinsamen Regelung unserer öffentlichen Angelegenheiten in Freiheit. Zu gelebter Demokratie könnten wir nur wieder kommen, wenn wir den gegenseitigen Respekt wiederfänden.
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