Literatur zwischen Rationalität und Rationalitätskritik (mit Video)

Silvio Vietta sprach über die spezifischen Merkmale der Literatur Europas

Silvio Vietta bei seinem Vortrag

Identität, Identitätsfindung und -erhaltung sind große und drängende Themen, zumal in der Gegenwart. Sie betreffen den einzelnen ebenso wie Gemeinschaften – Völker und Nationen –, aber auch ganze Kulturkreise. Träger von kultureller Identität ist neben vielem anderem immer auch die Literatur.

Den spezifischen Merkmalen der europäischen Literatur widmete sich am 30. August 2023 der emeritierte Hildesheimer Literatur- und Kulturhistoriker Silvio Vietta mit der Vorstellung seines neuen Buches „Europas Literatur: Entstehung, Strukturen – Eine Einführung“. Im Mittelpunkt seines Werkes steht die These, daß es die antike „Revolution der Rationalität“ gewesen sei, deren Für und Wider der europäischen Literatur ihr spezifisches Gepräge gegeben habe. Diese „Revolution“ habe das mythische Denken verabschiedet und an seine Stelle einen „neuen Denktypus“ gesetzt, der die Welt fortan in kausaler Herleitung aus erkennbaren Gründen zu erklären suchte. Vietta datiert sie – ähnlich wie Karl Jaspers die „Achsenzeit“ – im sechsten Jahrhundert vor Christus. Sie habe, so Vietta, einen prinzipiell offenen Prozeß eingeleitet, der bis heute andauere und die europäische Literatur von den Anfängen bis zur Klassischen Moderne präge.

In einer Tour d’horizon stellte Vietta die wichtigsten, einander durchaus widersprechenden Stationen dieses Prozesses vor. So hätten sich als erstes die Vorsokratiker von den Theogonien eines Hesiod oder Homer verabschiedet und versucht, auf je eigene Weise und im Horizont ihres damaligen Wissens die Welt wissenschaftlich zu erklären. Doch schon bald seien die Grenzen dieser anthropozentrischen Weltsicht erkannt und ihre Abgründe in der „Antigone“ des Sophokles besungen worden. Die „Orestie“ des Aischylos stehe, so Vietta, für den Versuch, einen mythischen Konflikt logisch zu lösen, während Euripides in seiner „Medea“ bereits Unterschiede von männlicher und weiblicher Rationalität thematisiere.

Während Viettas Buch nun auf die spätantike und mittelalterliche Literatur zu sprechen kommt, setzte der Referent des Abends nach einem großen Sprung in der neuzeitlichen Literatur wieder ein. Der europäische Roman repräsentiere eine auf Gefühl, Subjektivismus und Innerlichkeit aufruhende Rationalitätskritik, wofür Goethes „Leiden des jungen Werther“ ebenso stünden wie Flauberts „Madame Bovary“, Dostojewskijs „Dämonen“ oder Kafkas „Prozeß“. Die „Revolution der Rationalität“, so Vietta abschließend, sei insofern der gemeinsame, affirmative oder negative, Bezugspunkt der Literatur Europas, was es in dieser Form in keinem anderen Kulturkreis gebe.

In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, daß die von Vietta historisch erhobene literarische Identität Europas nicht zwingend deckungsgleich ist mit der europäischen Tradition, die stets auswählte, woran sie festhielt und woran nicht. Identität ist demnach nicht der Sollgehalt, sondern die Voraussetzung von Traditon.

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